Auswirkung des Aufschubs einer antiretroviralen Behandlung während einer ganz frischen HIV-Infektion auf die Telomerlänge. Journal of Infectious Diseases
Menschen, die mit HIV leben, haben heutzutage ungefähr die gleiche Lebenserwartung wie die Personen ohne HIV. Dies ist vor allem dank der stetig weiterentwickelten HIV-Medikamente möglich, der sogenannten antiretroviralen Therapie (ART). Menschen mit HIV könnten heutzutage allerdings mehr an altersbedingten Erkrankungen wie zum Beispiel Schlaganfall, Diabetes mellitus, Osteoporose und koronarer Herzkrankheit erkranken als Menschen ohne HIV.
Für Alterungsprozesse im menschlichen Körper sind unter anderem nicht mehr ganz korrekt funktionierende Zellreparaturvorgänge in der Erbsubstanz (DNA) zuständig. Bestimmte körpereigene Eiweisse sind dafür zuständig, die DNA zu reparieren, damit keine fehlerhaften neuen Zellen und somit Erkrankungen entstehen. Es gibt aber noch andere Schutzvorrichtungen: Die sogenannten Telomere sind Endkappen der DNA auf den Chromosomen. Interessant ist, dass die Telomere im Laufe eines Lebens natürlicherweise immer kürzer werden. Von den Telomeren wird auch vermutet, dass sie, wenn sie überdurchschnittlich schnell kürzer werden, die Zellen überdurchschnittlich schnell altern. Kürzer werdende Telomere könnten somit altersbedingte Erkrankungen begünstigen oder sogar hervorrufen.
Man weiss, dass bei Menschen mit HIV die Telomere im Vergleich zu HIV-negativen Menschen kürzer sind. Es wird zudem vermutet, dass bei HIV-positiven Menschen ein Zusammenhang zwischen den kürzeren Telomeren und den möglicherweise früher auftretenden, altersbedingten Krankheiten (wie z.B. koronarer Herzkrankheit) bestehen könnte. Dass die Telomere bei Menschen mit HIV kürzer sind, könnte mit dem stark aktivierten Immunabwehrsystem des Körpers zusammenhängen. Gerade im frühesten Zeitraum kurz nach der HIV-Ansteckung ist das Immunsystem sehr aktiv und es zirkulieren im Körper viele Entzündungsstoffe als Reaktion auf den „Stress“, den die frische HIV-Infektion für das Immunsystem auslöst. Und es scheint, dass die Telomere in den ersten 1-2 Jahren nach der HIV-Ansteckung besonders schnell kürzer werden.
Die vorliegende Studie hat untersucht, ob es einen Unterschied in der Telomerlänge gibt, wenn der Patient oder die Patientin früh mit der ART beginnt. Mit dem frühen Beginn der ART könnte die Immunaktivierung gesenkt und damit vielleicht ein Schutz vor dem erwähnten Telomerlängen-Verlust erzielt werden.
In die Studie wurden 105 Patienten und Patientinnen aus der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie eingeschlossen, bei denen eine ganz frische HIV-Infektion (Primoinfektion) diagnostiziert wurde. Diese Patient*innen wurden innert weniger Wochen nach HIV-Ansteckung diagnostiziert. Alle Patient*innen nahmen an der Zürcher HIV Primoinfektionsstudie (ZPHI) teil. Bei allen Patient*Innen wurde die Telomerlänge über 6 Jahre mehrere Male gemessen.
Im Durchschnitt wurde bei den Patient*innen die ART 6 Wochen nach der HIV-Ansteckung begonnen. Die Patient*innen wurden dann in 3 Drittel aufgeteilt, je nachdem ob die ART mit wenig Verzögerung, mit durchschnittlicher oder mit langer Verzögerung begonnen wurde: Konkret wurde die ART in diesen 3 Gruppen durchschnittlich 25 Tage nach HIV-Diagnose, nach 42 Tagen bzw. erst nach 60 Tagen begonnen.
Die Studie zeigte mehrere interessante Ergebnisse: Die Telomere waren in den 2 Gruppen, die „erst“ nach 42 bzw. 60 Tagen die ART begannen, bereits kürzer als bei dem Drittel der Patient*innen, die früh, also schon nach 25 Tagen mit der ART begannen.
Weiterhin zeigte die Studie, dass auch 6 Jahre später diejenigen Patient*Innen, die am wenigsten lang gewartet hatten mit dem Beginn von ART immer noch die längsten Telomere hatten (im Vergleich zu den 2 Dritteln der Patient*Innen, bei denen die ART erst später begonnen wurde).
Wurde die ART zwischenzeitlich unterbrochen (in den frühen 2000er Jahren wurde das nicht selten gemacht), war der günstige Effekt des frühen ART-Beginns auf die Telomerlänge nicht mehr zu sehen.
Wie gross war der ungünstige Effekt des „lange mit dem ART-Beginn warten“ auf die Telomere? Gemäss Einschätzung der Autoren war dieser Effekt gross. Konkret: Die Telomere waren in den 2 Gruppen, die „erst“ nach 42 bzw. 60 Tagen die ART begannen, über die Dauer der folgenden 6 Jahre gemittelt um 17-22% kürzer als bei dem Drittel der Patient*innen, die bereits nach 25 Tagen mit ART begannen. Dieser Effekt war etwa doppelt so gross wie der natürliche Effekt des Älterwerdens auf die Telomerlänge (8.2% kürzere Telomere pro 10 Jahre ältere Patient*Innen). Anders gesagt: ein schon nur ein paar Wochen späterer ART-Beginn während der HIV-Primoinfektion scheint den Körper doppelt so stark „altern“ zu lassen wie es im Verlauf von 10 Jahren passiert wäre.
Diese Ergebnisse unserer Studie bestanden weiter, nachdem die Autoren andere Einflüsse auf die Telomerlänge berücksichtigten, wie z.B. Rauchen, Alkoholkonsum, immunologische Werte, Höhe der HIV Viruslast, eine gleichzeitige Infektion mit Hepatitis C oder dem Cytomegalievirus usw. Die Daten scheinen also sehr zuverlässig und nicht zufällig entstanden zu sein.
Eine Einschränkung der Studie ist, dass fast nur weisse Männer untersuchten wurden, d.h. man sollte nur sehr zurückhaltend davon ausgehen, dass die Daten auch auf Frauen oder nicht-weisse Personen zutreffen.
Zusammenfassend deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass die HIV-Primoinfektion schnell diagnostiziert werden sollten. Eine ART könnte, wenn sie rasch während der Primoinfektion begonnen wird, den bekannten, schnellen Telomerlängen-Verlust in den ersten Wochen der HIV Infektion reduzieren oder gar verhindern. Letzten Endes könnte man vermuten, dass ein früher ART-Beginn durch einen günstigen Effekt auf die Telomere, auch die möglichen negativen Auswirkungen von HIV auf die Alterung des Körpers und die damit verbundenen Krankheiten wie Herzinfarkte und Osteoporose reduzieren könnte.